Zurich Pride weiterhin notwendig ist
NZZ, Dorothee Vögeli, 18.06.2022
Die Vizepräsidentin der Schweizer Jungfreisinnigen rechnete damit, für immer Single zu bleiben. Dann fand sie ihre grosse Liebe und ihr wichtigstes Politthema: die Gleichberechtigung der Queers.
Zum Stammpublikum der Zurich Pride gehört Jill Nussbaumer. Auch dieses Wochenende ist die 28-Jährige am grössten Queer-Anlass der Schweiz dabei. Nach Corona wird es diesmal wieder ein grosses Volksfest sein – letztes Jahr war bloss eine Demonstration erlaubt. Sie stand ganz im Zeichen der anstehenden Volksabstimmung über die «Ehe für alle». Für die LGBTI-Gemeinschaft war es die wichtigste gesellschaftspolitische Abstimmung seit Jahrzehnten. Auch für Jill Nussbaumer.
Landauf, landab hatte die Vizepräsidentin der Schweizer Jungfreisinnigen für ein Ja gekämpft. Nach dem deutlichen Resultat ist nun ein Herzensanliegen in greifbare Nähe gerückt: Jill Nussbaumer möchte ihre Lebenspartnerin heiraten. Einen Hochzeitstermin hat das Paar noch nicht. Offen ist auch, ob sie sich mit oder ohne kirchlichen Segen das Ja-Wort geben werden. «Wir müssten zuerst einen Pfarrer finden, der bereit dazu wäre. Im Unterschied zu Hetero-Paaren haben wir mit einem Nein zu rechnen», sagt sie.
Schleichend geoutet
Die 28-jährige Volkswirtschafterin arbeitet im Bereich Blockchain und digitale Vermögenswerte. Zum Gespräch mit der NZZ kommt sie im Geschäfts-Look: hohe Sandalen, weisse Hose, leuchtend rote Bluse. Sie zeigt nur wenig Haut und ist diskret geschminkt. Auch an der Zurich Pride, dem grössten Queer-Anlass der Schweiz, wird sie auf ein extravagantes Outfit verzichten. Eine auf das Gesicht gemalte Regenbogenflagge und etwas Glitzer reichen ihr vollends. Jill Nussbaumer wird in einer Gruppe von FDP-Exponenten mitmarschieren. Auf ihrem T-Shirt wird das Logo der Jungfreisinnigen prangen.
Demonstrationszug und Fest auf dem Kasernenareal
vö. Das Motto der diesjährigen Zurich Pride lautet «trans – Vielfalt leben». Nach drei Jahren ist das Festival auf das Kasernenareal und in den Zeughaushof zurückgekehrt. Am Samstag, ab 13 Uhr, sind auf dem Helvetiaplatz Reden zu hören, um 14 Uhr setzt sich der Demonstrationszug durch die Innenstadt in Bewegung. Von 11 Uhr bis 24 Uhr finden auf dem Festgelände musikalische Darbietungen, Informationsveranstaltungen und Partys statt. Der Eintritt ist gratis.
Ihre Lebenspartnerin ist in Brasilien aufgewachsen. Im Alter von 12 Jahren kam sie in die Schweiz. Nussbaumer möchte nicht für sie sprechen. «Aber ich denke, dass es Anstrengungen brauchte, um sich zu integrieren.» Ihre Freundin habe das Thema aktiv angepackt. Sie engagiere sich in Vereinen und sei in der Feuerwehr. Manchmal erzähle sie von «Mikroaggressionen». Einmal habe jemand sie wegen der Maske nicht auf Anhieb verstanden und sofort ins Hochdeutsche gewechselt, obwohl sie Schweizerdeutsch spreche. «Viele Leute sagen oder machen etwas unbewusst, das einen treffen kann.»
Nussbaumer ist in einem wohlbehüteten katholischen Elternhaus in Cham aufgewachsen. Der Kirche fühlt sie sich emotional verbunden. «Mir gefallen Zeremonien», sagt sie. Nur Weihrauch mag sie nicht so sehr – vor allem wenn sie gleich danebensteht. Hingegen singt sie gern, wenn auch nicht gut, wie sie lachend einräumt. Immerhin hat sie einmal in einer Band Background gesungen.
Trotz der Homophobie und Frauenfeindlichkeit der römischen Kurie war der Kirchenaustritt nie ein Thema. Bereits vor dem Ja zur «Ehe für alle» segnete ein Seelsorger Nussbaumers Partnerschaft. Weshalb ist ihr das so wichtig? «Es ist schön, zu spüren, dass in der Beziehung etwas Grösseres wirksam ist», sagt sie.
Gegenüber ihren Eltern habe sie sich «schleichend» geoutet, erzählt die Jungpolitikerin. Sie sagte ihnen jeweils, dass sie an eine Pride oder eine LGBT-Party gehe. Und sie stellte ihnen alle Bekannten vor, die offensichtlich queer waren. Aber sie brachte nie eine feste Freundin nach Hause. Nicht aus Scham, sondern weil sie lange keine Beziehung hatte. «Ich fragte mich, ob ich aromantisch sei und mich deshalb nie verliebte.»
Sie war felsenfest überzeugt, ein Leben lang Single zu bleiben. Doch vor drei Jahren schlug der Blitz ein. Sie fand ihre grosse Liebe. Erst jetzt war für sie die Zeit reif, ihren Eltern zu eröffnen, dass sie lesbisch sei. «Schön, dass du es uns sagst», meinten sie. Sie waren nicht überrascht. Ihre Mutter eröffnete ihr, sie habe an Weihnachten zwei Marienfiguren in die Krippe gestellt und Josef weggelassen – um ihrer Tochter Mut zu machen. Ihr ist es nicht aufgefallen. Da jedes Jahr dieselbe Krippe aufgestellt wird, hat sie nicht mehr so genau hingeschaut.
Ihre beste Gymi-Freundin trat mit 17 Jahren der grünen Partei bei. Nussbaumer, die schon damals gerne Zeitungen las, hatte mit ihr stundenlang über Politik diskutiert. «Deine Position ist jungfreisinnig. Schau doch mal, ob es dir dort gefällt», sagte die Freundin. Nussbaumer nahm den Ball auf. Das Freiheitskonzept, der liberale Gedanke, möglichst vieles privat regeln zu können, hat sie überzeugt. Mit 18 trat sie dem Jungfreisinn bei. Vor einem halben Jahr wurde sie über eine Ersatzwahl Mitglied des Zuger Kantonsparlaments.
Politisch aktiv ist sie nach der Matura geworden. Damals jobbte sie in einer Bank. Auf ihrem Radar waren denn auch ausschliesslich wirtschaftliche Themen. Erst an der Hochschule St. Gallen, an der sie sich selbst das Label einer Lesbe verlieh und an Queer-Veranstaltungen ging, fokussierte sie sich auf die Gesellschaftspolitik. Ins Zentrum rückte sie die Gleichberechtigung homosexueller Paare.
«Es braucht kein WC-Gesetz»
In der FDP gebe es viele Queers, die sich geoutet hätten – auch Parlamentarier wie Damien Cottier, der Chef der FDP-Nationalratsfraktion, hält sie fest. Und seit bald zwanzig Jahren engagiere sich die FDP-Fachgruppe Radigal für die Gleichstellung der LGBTI-Community. «Das gibt mir Sicherheit, mich selbst sein zu können.» Parteiinterne Sprüche wie: «Ach, jetzt kommt sie schon wieder mit ihrer Gesellschaftspolitik», findet sie unfair.
Sie engagiere sich ebenso sehr für andere parteipolitische Baustellen wie die AHV-Reform oder die Individualbesteuerung, hält sie fest. Solche Themen würden eben in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen als das Gesellschaftsliberale. Sie räumt aber ein: «Viele Politiker haben einen Schwerpunkt, zu dem sie sich gerne befragen lassen und am meisten Gehör erhalten. Wegen der ‹Ehe für alle› ist für mich die gesellschaftsliberale Politik ein Schwerpunkt geworden.»
Über ihre weitere politische Karriere macht sie sich noch keine Gedanken. «Ich plane nicht, ich habe keine Meilensteine. Für mich kommen verschiedene Lebensentwürfe infrage.» Auch, ob sie einmal Kinder haben möchte, weiss sie noch nicht. «Beides ist möglich.» Klar aber ist: «Alle sollen Kinder haben können, und zwar unabhängig vom Geschlecht.» Die Jungpolitikerin fordert, die Leihmutterschaft in der Schweiz zu erlauben. Solange es für alle Beteiligten freiwillig sei, sehe sie keinen Grund, das zu verbieten oder ins Ausland zu verlagern.
Ein Kind hat ihres Erachtens aber ein Anrecht, zu wissen, wer der biologische Vater ist. Nussbaumer ist überzeugt, dass sich das mit klaren Richtlinien regeln lässt. Politische Mehrheiten dürften allerdings schwer zu erreichen sein. Auch in der eigenen Partei gerät sie mit ihren Positionen zuweilen auf Kollisionskurs. Cat-Calling wie in Spanien zu verbieten, also anzügliche Sprüche auch in der Schweiz zu büssen, sei ihre persönliche Meinung, betont sie. Es gehe ihr nicht um Flirt-Versuche, sondern um explizit vulgäre Angriffe auf Personen.
Mit liberalem Pragmatismus begegnet sie den wachsenden Diversity-Forderungen aus den Reihen der Queer-Gemeinschaft. «Ich bin generell gegen Quoten und gegen Separierungen. Wir wollen eine Gesellschaft sein und nicht noch mehr Schubladen schaffen. Es braucht kein WC-Gesetz», sagt sie. Es sei den Betreibern von Gaststätten und Kulturhäusern überlassen, den sinnvollsten Weg in der WC-Frage herauszufinden. Ihr wäre eine einzige geschlechtsneutrale und behindertengerechte Toilette mit Wickeltisch für alle am liebsten. «Das käme der ganzen Gesellschaft zugute.»
In einem Positionspapier befassen sich die Jungfreisinnigen mit polyamourös veranlagten Menschen. Solche Personen leben verschiedene Liebesbeziehungen gleichzeitig. Die Jungpolitiker haben nun ein eheähnliches Konstrukt für mehr als zwei Menschen erarbeitet. Glaubt Nussbaumer allen Ernstes, dass solche Vorschläge realistische Chancen haben?
«Wir müssen solches zuerst in den gesellschaftlichen Diskurs bringen und zeigen, dass es Leute gibt, die so leben», sagt sie. Vielleicht werde es in fünfzig Jahren einen rechtlichen Rahmen dafür geben. Auch mit der «Ehe für alle» und der eingetragenen Partnerschaft sei der Weg lang und hürdenreich gewesen. Obwohl gleichgeschlechtliche Paare seit Jahrzehnten zusammenleben. «Irgendwann muss man anfangen, darauf aufmerksam zu machen.» Dass inzwischen sogar katholische Pfarrer bereit sind zu einer Zeremonie für gleichgeschlechtliche Paare, zeigt ihr: Ganz langsam hat sich doch etwas geändert.
Der Prozess geht weiter. Deshalb braucht es ihres Erachtens die Pride. «Solange es wegen der sexuellen Orientierung Unterschiede gibt, ist es sinnvoll, einmal pro Jahr darauf aufmerksam zu machen.»