NZZ: Fukushima: Horst Michael-Prasser zur Zukunft der Kernenergie
Nach dem Nuklearunfall in Fukushima war der Kerntechniker Horst-Michael Prasser enttäuscht darüber, wie schlecht Japan auf den Notfall vorbereitet gewesen war. Im Interview mit Christian Speicher erklärt er, warum wir die Kernenergie dennoch nicht abschreiben sollten.
Nzz, Christian Speicher 11.03.2021, 05.30 Uhr
Herr Prasser, vor zehn Jahren ereignete sich in Fukushima einer der schwersten Unfälle in der Geschichte der Kernenergie. Waren Sie als Kernphysiker überrascht, dass das ausgerechnet in einem hochtechnisierten Land wie Japan passierte?
Ich war damals in Lauterbrunnen zum Skifahren, als ich die Bilder mit der Wasserstoffexplosion sah. Mir war sofort klar, dass ein Reaktorkern beschädigt worden war. Ich rechnete damit, dass man versuchen würde, die Auswirkungen des Unfalls zu begrenzen, indem man den Reaktorkern mit Wasser kühlt. Am nächsten Tag wurde klar, dass die Betreiber dazu offensichtlich nicht in der Lage waren. Wie sich herausstellte, war Japan sehr schlecht auf Notfälle vorbereitet, die über die Störfallauslegung von Kernkraftwerken hinausgehen. Das war sehr enttäuschend.
In den Wochen nach dem Unfall waren Sie in den Medien ein gefragter Experte. Fiel es Ihnen schwer, so offen über einen Unfall zu sprechen, den Sie vorher vermutlich für sehr unwahrscheinlich gehalten hatten?
Das ist mir in der Tat nicht leichtgefallen. Aber als Kerntechniker und Professor der ETH Zürich fühlte ich mich damals verpflichtet, der Öffentlichkeit Rede und Antwort zu stehen. Andere Institutionen haben es sich einfach gemacht und sind auf Tauchstation gegangen. Aber das kam für mich nicht infrage. Dafür habe ich sogar in Kauf genommen, dass ich als Lobbyist der Industrie hingestellt wurde.
Fukushima war ein riesiger Rückschlag für die Kernenergie. Die Schweiz und Deutschland beschlossen in der Folge den Ausstieg, und auch andere Länder legten ihre Ausbaupläne vorerst auf Eis. Wie ist die Situation heute? Stehen wir vor einer Renaissance der Kernenergie, wie oft behauptet wird?
Eine echte Renaissance kann ich nicht erkennen. Es werden inzwischen zwar wieder neue Kernkraftwerke gebaut. Dafür werden aber alte Reaktoren vom Netz genommen. Unter dem Strich stagniert die Entwicklung. Das ist bedauerlich, wenn man wie ich von der Prämisse ausgeht, dass wir die Kernenergie brauchen, um die Klimaziele zu erreichen.
Brauchen wir sie denn?
Ich denke, ja. Die Frage ist, ob wir unsere Wirtschaft allein durch erneuerbare Energie dekarbonisieren können. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich hätte nichts dagegen. Aber ich habe doch meine Zweifel. Zum einen ist das Problem der Energiespeicherung noch nicht gelöst. Zum anderen belasten auch die erneuerbaren Energien unsere Umwelt. Das wird bis anhin leider nur ansatzweise diskutiert.
Worauf spielen Sie an?
Denken Sie zum Beispiel an Windräder. Für die Generatoren braucht man grosse Mengen an seltenen Erden. Aus Medienberichten weiss man, welche Altlasten der Abbau dieser Rohstoffe in China hinterlässt. Das Gleiche gilt für die Gewinnung von Silizium für Solarzellen. Hier kommen hochgiftige Chemikalien zum Einsatz, die nur teilweise rezykliert werden können. Der Abfall muss in Tiefenlagern entsorgt werden. Wenn man den Anteil der Erneuerbaren über ein gewisses Mass hochfährt, kommt es zu Materialflüssen, die die Umwelt stark belasten.
Das tut auch die Kernenergie.
Die Kernenergie hat aber einen Vorteil. Die abgebrannten Brennstäbe aus einem Kernkraftwerk sind zwar hochradioaktiv. Dafür handelt es sich aber um vergleichsweise kleine Volumina, die sicher verwahrt werden müssen. Der Vergleich mit anderen Abfallströmen ist kompliziert, und ich weiss noch nicht einmal, ob ich recht habe. Ich mahne aber an, dass man das unbedingt durchrechnen muss, bevor man die Kernenergie abschreibt.
Die Schweiz möchte ihre CO 2-Emissionen bis zum Jahr 2030 halbieren. Andere europäische Länder haben ähnliche Ambitionen. Doch wie das Beispiel Frankreich und Finnland zeigt, kommt der Bau von fortschrittlichen Kraftwerken der dritten Generation in Europa nicht vom Fleck. Woran liegt das?
Ich kann Ihnen auch nicht im Detail sagen, was da schiefläuft. Ich würde es aber nicht auf den Reaktortyp schieben. Die Chinesen haben vorgemacht, dass man den European Pressurized Reactor zum Laufen bringt. Das sollte auch in Europa möglich sein. Schliesslich wurde dieser Reaktortyp von deutschen und französischen Unternehmen entwickelt.
Derzeit ist viel von Reaktoren der vierten Generation die Rede. Was verspricht man sich von ihnen? Und kommen sie nicht viel zu spät?
In erster Linie geht es um Nachhaltigkeit. Die Reaktoren der vierten Generation gehen sparsamer mit dem Brennstoff um, und es fällt auch weniger Abfall an. Dafür müsste man allerdings Ja zur Wiederaufbereitung von Brennstäben sagen. Auch haben diese Reaktoren gewisse Sicherheitsvorteile. Wenn wir aber wirklich etwas fürs Klima tun wollen, sind die Reaktoren der vierten Generation irrelevant, einfach deshalb, weil sie noch lange nicht zur Verfügung stehen. Wir müssen uns auf das besinnen, was wir haben. Und das sind die Reaktoren der dritten Generation, die auch sehr sicher sind.
Wie lange würde es denn dauern, die Reaktoren der vierten Generation zur Marktreife zu entwickeln?
Das kommt auf die Investitionen an. Wenn wir viel Geld in die Hand nehmen, könnte das in zehn Jahren gelingen. So, wie es jetzt läuft, muss man wohl eher mit dreissig bis vierzig Jahren rechnen.
Eine Idee, die in den letzten Jahren ebenfalls propagiert wurde, ist die der kleinen modularen Reaktoren. Bill Gates investiert in Firmen, die solche Reaktoren entwickeln, und auch die Regierung Biden hat Fördergelder in Aussicht gestellt.
Wo liegt der Vorteil, wenn man zehn kleine statt einem grossen Kernkraftwerk baut?
Die Idee ist, die Ökonomie der Grösse durch die Ökonomie der Serie zu ersetzen. Der Bau grosser Stückzahlen soll die Kosten senken. Wenn das funktioniert, ist es eine gute Idee. Allerdings beruhen die kleinen modularen Reaktoren auf ganz unterschiedlichen Konzepten. Bei manchen handelt es sich um Leichtwasserreaktoren der dritten Generation. Bill Gates will hingegen modulare Reaktoren der vierten Generation entwickeln. Entsprechend schwierig ist es, Aussagen darüber zu machen, wann mit solchen Reaktoren zu rechnen ist. Für die nähere Zukunft sind sie wohl keine Lösung. Aber ich gehe davon aus, dass wir auch in hundert Jahren noch Kernkraftwerke brauchen werden.
Wofür?
Vor allem, um die Grundlast CO2-neutral abzudecken. Grosse Industriebetriebe brauchen rund um die Uhr konstanten Strom. Solange nicht jemand einen Superspeicher erfindet, ist das für mich ohne die Kernenergie schwer vorstellbar. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist. Aber zu welchem Preis? Da komme ich auf meine Bemerkung zu den Materialflüssen zurück. Wegen der begrenzten Speicherkapazität von elektrochemischen Energiespeichern müssten wir Rohstoffe wie Lithium in einem heute nicht vorstellbaren Ausmass fördern.
Lassen Sie uns auf Fukushima zurückkommen. Wie ist die Lage vor Ort? Wie lange wird es dauern, um zumindest die drängendsten Probleme in den Griff zu bekommen?
Das wird Jahrzehnte dauern. Das grösste Problem ist, dass man immer noch nicht weiss, wohin der geschmolzene Brennstoff geflossen ist. Hinzu kommen hausgemachte Probleme. Was soll man zum Beispiel mit den riesigen Mengen an Tritium-haltigem Kühlwasser machen, das in riesigen Tanks gelagert wird? Am sinnvollsten wäre es, dies über einen Zeitraum von dreissig Jahren ins Meer abzulassen. Die radioaktive Belastung wäre nicht grösser als während des Betriebs der Reaktoren. Denn auch damals wurde Tritium-haltiges Wasser ins Meer geleitet. Hätte Japan das offen kommuniziert, hätte der Betreiber vielleicht harte Zeiten gehabt. Jetzt geht Tepco durch extraharte Zeiten.
Glauben Sie, dass sich die Kernenergie jemals von dem Vertrauensverlust erholen wird, den sie durch Tschernobyl und Fukushima erlitten hat?
Was in Fukushima passiert ist, ärgert mich masslos. Denn das haftet unserer Branche bis heute an. Dennoch sehe ich in letzter Zeit Anzeichen für einen Meinungsumschwung. Durch die Klimadiskussion redet man zumindest wieder über die Kernenergie. Und es wird inzwischen offener darüber diskutiert, dass auch andere Techniken nicht frei von Umweltproblemen sind. Das begrüsse ich. Mir liegt es aber fern, mit wehenden Fahnen in einen heiligen Krieg für die Kernenergie zu ziehen. Mir geht es nicht darum, die Erneuerbaren schlechtzumachen.
Kerntechniker an der ETH Zürich: Horst-Michael Prasser war bis zu seiner Emeritierung im Januar 2021 ordentlicher Professor für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich. Bekannt wurde der gebürtige Ostdeutsche nach dem Nuklearunfall von Fukushima, als er sich bereitwillig den Fragen einer verunsicherten Öffentlichkeit stellte.