NZZ - Linksextreme Gewalt: Es bedarf einer Änderung der Politkultur
Gewalt gegen Polizisten gehört fast schon zum guten Ton in der westlichen Gesellschaft. In Deutschland wirkten das Beispiel Joschka Fischer und der Aufstieg von Grünen und Teilen der SPD aus extremen linken Zusammenhängen als symbolische Etablierung.
Wenn eine Innenstadt, wie gerade in Stuttgart geschehen, von einem ausser Kontrolle geratenen Mob verwüstet wird, ist das ein Politikum per se. Im grün regierten Musterländle Baden-Württemberg und in der ebenfalls grün regierten Hauptstadt Stuttgart will die Regierung von Stadt und Land nicht so recht etwas gewusst haben von dem Gewaltpotenzial, das sich am vergangenen Wochenende entlud. So viel Dummheit oder Feigheit der politischen Führungsorgane ist auch ein Politikum.
Der Stuttgarter Polizeipräsident brachte kurz die völlig in die Irre führende Formulierung von einer «Partyszene» ins Spiel; der Mann weiss offenbar weder, was eine «Party», noch, was eine «Szene» ist. Die Manager der Stuttgarter Klubs haben zu Recht sofort protestiert.
Die Täter scheinen weder politisch noch religiös irgendwie gross drauf gewesen zu sein, aber sie brüllten offenbar intensiv und immer wieder: «Fuck the police, fuck the system!» Und unter dieser Selbstbedröhnung eskalierten auch die Angriffe gegen die Polizisten, alle Uniformierten, Polizeiautos und sogar Polizeistationen.
«Systemumsturz» und «Die Bullen sind Schweine» sind Sprüche, die einen fünfzig Jahre alten Bart haben, auch wenn die Brüller aus Stuttgart von der Geschichte nichts wissen. Einen Ursprung der partiellen Akzeptanz von Gewalt gegen Polizisten findet man im Juni 1970: Damals erschien der Artikel «Natürlich kann geschossen werden», der dem «Spiegel» aus dem «Untergrund» von der gerade in Gründung befindlichen RAF zugespielt worden war. Dieser Text stiess das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg das Tor zur Gewalt gegen Polizisten als Repräsentanten des «kapitalistischen» Systems auf.
Die Täter von Stuttgart jedenfalls fühlen sich in einer Gesellschaft, welche die Polizei öffentlich delegitimiert und zum Beispiel als rassistischen Verdachtsfall (wie die SPD-Chefin Saskia Esken) darstellt, förmlich berufen, auf Polizisten draufzuhauen. Wie sollte es auch anders sein, wenn seit Jahrzehnten brutale, linksradikale Demonstrationen gegen Polizisten in den meisten westlichen Ländern zum guten gesellschaftlichen Ton gehören?
So unterschiedlich die Demonstrationsmoden über die Jahrzehnte gewesen sind, so sehr einigt die Protestszenen eine seltsame «Wut» auf die Polizei. Im Frankfurt der siebziger Jahre gab es Phasen eines regelrechten Bürgerkrieges. Das Gemisch damals setzte sich zusammen aus militanten Hausbesetzungen, Linksterrorismus-Bezügen, maoistischen K-Gruppen, militantem Strassenkampf «für die Dritte Welt», gegen Kapitalismus, Imperialismus, gegen den Staat und das System.
Aus dieser Phase stammt die Filmszene von 1973, in der ein militanter Joschka Fischer, späterer grüner Aussenminister, gemeinsam mit anderen Gewalttätern auf einen am Boden liegenden Polizisten eintritt, was im Januar 2001 eine Diskussion über die Gewaltvergangenheit der Grünen ausgelöst hat. Und aus dieser Phase stammt auch der Molotowcocktail-Angriff der linksradikalen militanten Szene in Frankfurt von 1976, bei dem ein Polizist knapp dem Tode entkam.
Diese Strassengewalt gegen die Polizei setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort bis zu den Gewaltexzessen 2015 in Frankfurt anlässlich der Eröffnung der Europäischen Zentralbank und 2017 in Hamburg am Rande des G-20-Gipfels.
So ist in den letzten fünfzig Jahren praktisch jeder Deutsche, auch jeder Deutsche mit Migrationshintergrund, mit kräftiger medialer Unterstützung und Anfeuerung wenigstens zu einem Polizeiskeptiker geworden: «All cops are bastards» – ACAB, auf gut Deutsch: Alle Bullen sind Schweine.
Die Antifa hat viele Gesichter
Natürlich ist die spätere Karriere eines Polizistentreters wie Joschka Fischer auch ein Beitrag zur Entwertung der Polizei. Und die historischen und personellen Linien zur Politik von heute sind da. So ist beispielsweise der derzeitige Oberbürgermeister von Stuttgart, Fritz Kuhn, ein enger Weggefährte Joschka Fischers gewesen. Und so war der heutige grüne Landesvater Winfried Kretschmann als früheres Mitglied des maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) ebenso ein Weggefährte Joschka Fischers im weiteren Sinne.
Die Grünen haben ihre Gewaltvergangenheit erfolgreich verdrängt; sie haben sich grün verbürgerlicht. Die Beteiligung über Jahrzehnte an Gewaltexzessen, auch im Anti-AKW-Kampf, haben sie bis heute nicht benannt und aufgearbeitet – anders als ihre pädophilen politischen Verirrungen, die sie 2013 zumindest in Ansätzen aufgearbeitet haben.
Die Grünen sind heute alternativ verbürgerlicht, haben mit Robert Habeck keinen Gewalttäter, sondern einen Politromantiker an der Spitze und sind also keineswegs die Buhmänner. Die linksradikalen Linien, der Hass auf Polizei und Bürgerlichkeit haben aber genauso in der SPD Spuren hinterlassen: Saskia Esken und der Bundesvorstand der SPD bekannten sich vor wenigen Wochen über Twitter dazu, «Antifa» zu sein: «Selbstverständlich.» Wohl wissend, dass die Antifa viele Ausleger hat, unter anderem einen sehr wichtigen gewalttätigen Arm. Der machte letztmals Schlagzeilen an Silvester 2019/20 in Leipzig-Connewitz, als mehrere Polizisten bewusstlos geschlagen wurden.
Die Antifa agiert auch unter vielen anderen Namen, derzeit an vorderster Front bei den teilweise durchorganisierten Gewaltexzessen in den USA und in England. Insofern ist die Geschichte von linksradikalen Gewaltexzessen – vor allem gegen die Polizei – nicht reine Historie. Sondern es geht um die Regierenden in Deutschland und um Politik.
Keinen Bock auf «Black Lives Matter»
Der grosse historische Rahmen der Anti-Polizei-Gewalt ist die Grundlage dafür, dass sich in Stuttgart überhaupt junge Leute so sicher fühlten, als sie sich gegen die Polizei austobten. Die Bilder aus den USA, aus London und teilweise auch aus Berlin, die die Täter von Stuttgart seit Wochen täglich sehen, zeigen marodierende, sich in Massendiebstählen bereichernde Gruppen, die die Polizei abschaffen wollen, die Polizisten jagen und die keineswegs die gebührende Medienkritik erfahren. Seit Wochen gibt es bei den kulturrevolutionären Ausschreitungen in den USA auch Tote.
«Black Lives Matter» ist ein Ruf, eine Legitimation betroffener Schwarzer, aber kein Freibrief für ausgerastete junge Männer in Stuttgart, die sich noch nicht einmal pro forma mit den Schwarzen solidarisch erklärt haben. Im Gegenteil: Sie machen, so scheint es, die Exzesse, die sie in den Medien sehen, nach und haben auf «Black Lives Matter» gar keinen Bock. Aber sie wissen sehr wohl, dass die von ihnen auch taktisch eingesetzten Vokabeln «Rassismus» oder «Nazi» gegenüber den Polizisten wahre Wunderwaffen sind.
Insofern ist es katastrophal, dass der Bundesinnenminister Horst Seehofer, statt sich mit den Aussagen von Saskia Esken und dem SPD-Vorstand oder auch mit der gewaltvollen, unaufgearbeiteten Geschichte der Grünen auseinanderzusetzen, angekündigt hat, eine «TAZ»-Kolumnistin anzuzeigen. Ein Bundesinnenminister zeigt entweder an, oder er hält den Mund. Fritz Kuhn hat sich zu Recht von Saskia Esken distanziert.
Gewaltmonopol des Staates
Aber es existiert ein Symbol der Etablierung, wie es das Beispiel Joschka Fischer und der Aufstieg von den Grünen und Teilen der SPD aus extremen linken Zusammenhängen zeigen. Deshalb bedarf es einer Änderung der Politkultur. Das Gewaltmonopol einer rechtsstaatlich organisierten Demokratie liegt ohne Wenn und Aber bei der Polizei. Es darf nicht einreissen, dass Politiker wie Esken die Polizei zum gefährdeten Ort verfassungswidriger Strömungen erklären.
Übeltäter gibt es in jeder Behörde, in der Justiz, in den Parlamenten, und ihnen muss nach Kräften das Handwerk gelegt werden; nur das Gewaltmonopol des Staates bemakeln, das ist per se Verfassungsbruch.
Bettina Röhl ist Historikerin und Publizistin. Zuletzt von ihr erschienen: «Die RAF hat euch lieb» (Heyne-Verlag, 2018).