«Wir sind die erfolgreichste Friedensbewegung der Geschichte»
Weltwoche, Urs Gehriger, 2.7.2022
Der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen plädiert für entschlossene Härte im Umgang mit Putin. Gebietsabtretungen an Russland seien ein falsches Signal an Autokraten.
Während dreizehn Jahren hat Anders Fogh Rasmussen immer wieder mit Putin verhandelt. Zunächst als dänischer Premierminister (2001 bis 2009), danach als Nato-Generalsekretär (2009 bis 2014). Der russische Präsident habe sich während dieser Zeit «sehr verändert».
Den Vorwurf, der Westen habe die Sicherheitsbedenken Russlands nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums zu wenig ernst genommen, weist der Däne entschieden zurück. Er selbst habe immer wieder Brücken zu Putin gebaut. Allerdings habe man durchaus Fehler gemacht. «Wir haben Putins Brutalität und Ambitionen unterschätzt», so der selbsterklärte Abstinenzler und Fitnessfanatiker.
Zurzeit steht Rasmussen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Kontakt über die Modalitäten eines Friedens. Ein neutraler Status der Ukraine sei nicht auszuschliessen, doch ein solcher müsste an präzise Sicherheitsbedingungen geknüpft werden. Bis es so weit sei, könne es dauern. Ein baldiger Frieden sei nicht in Sicht. Putin habe Interessen an einem verlängerten Krieg, um seine Ziele zu erreichen.
Weltwoche: Herr Rasmussen, nicht lange ist es her, da hat Frankreichs Präsident Macron die Nato für «hirntot» erklärt. Hat Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine die Nato wieder so weit zum Leben erweckt, dass sie in der Lage ist, ihre Mitgliedstaaten zu verteidigen?
Anders Fogh Rasmussen: Auf jeden Fall. Ich denke, der ultimative Beweis dafür ist der Wunsch vieler Länder, allen voran Finnland und Schweden, der Nato beizutreten. Länder, die eine Sicherheitsgarantie wollen, würden keiner Organisation beitreten, die «hirntot» ist. Paradoxerweise hat Putin der Nato viel Kraft und Enthusiasmus verliehen. Er wollte weniger Nato. Jetzt bekommt er mehr Nato.
Weltwoche: Als Nato-Generalsekretär haben Sie von 2009 bis 2014 das Bündnis aggressiv in Richtung Osten orientiert. Putin hat wiederholt gewarnt, Russland fühle sich von der Nato bedroht. Denken Sie, dass die Nato-Osterweiterung seinen Einmarsch in die Ukraine provoziert hat?
Rasmussen: Ganz und gar nicht. Es gibt nur eine Person, die für diesen Angriff auf die Ukraine verantwortlich ist, und das ist Putin. Die Anschuldigungen gegen die Nato und die Anschuldigungen, dass die Nato eine Bedrohung für Russland darstelle, sind lächerlich. Die Nato ist von Natur aus eine Verteidigungsorganisation. Wir hatten nie die Absicht, Russland anzugreifen, und die Nato ist nicht erweitert worden, weil wir uns für mehr Mitglieder eingesetzt haben. Nein, die Nato wurde erweitert, weil Russlands Nachbarn die Mitgliedschaft beantragt haben, um Sicherheitsgarantien zu erhalten. Ich denke, anstatt der Nato etwas vorzuwerfen, was eindeutig lächerlich ist, sollte der Kreml ein wenig über die Tatsache nachdenken, dass die Nachbarn Russlands verzweifelt nach einer Sicherheitsgarantie gegenüber Russland suchen.
Weltwoche: «Die Nato kann ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Länder garantieren», warnte Putin 2008 auf dem Nato-Gipfel in Bukarest. Haben Sie damals die Sicherheitsbedenken Russlands wirklich ernst genug genommen?
Rasmussen: Wir haben viel getan, um Russland die Hand zu reichen. Die erste Nato-Erweiterung fand 1999 mit Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn statt. Zwei Jahre zuvor hatten wir die Nato-Russland-Grundakte verabschiedet. Neben anderen Schritten akzeptierten wir eine ständige russische Vertretung im Nato-Hauptquartier. So konnte diese mit eigenen Augen unsere Arbeit verfolgen und sehen, dass die Nato nicht gegen Russland gerichtet ist. Die nächste Erweiterung fand im Jahr 2004 statt. Zwei Jahre zuvor hatten wir den Nato-Russland-Rat gegründet. Als ich 2009 mein Amt als Nato-Generalsekretär antrat, machte ich es zu einer meiner Prioritäten, eine strategische Partnerschaft mit Russland aufzubauen. Wir waren transparent und offen gegenüber Russland, aber wir haben auch viele Fehler gemacht.
Weltwoche: Welches war der schlimmste Fehler?
Rasmussen: Wir haben die Brutalität und die Absichten von Putin unterschätzt. Vor ein paar Tagen habe ich mir meine Notizen von einem vertraulichen Treffen zwischen Putin und der Nato anlässlich des Bukarester Gipfels im Jahr 2008 angesehen. Bei diesem Treffen machte er bemerkenswerte Aussagen. Er behauptete, die Ukraine sei eigentlich keine unabhängige Nation, sondern altes russisches Territorium. Er sagte, Kiew sei die Mutter aller russischen Städte. Er sagte, die Krim sei bereits 1954 auf einer Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei unrechtmässig an die Ukraine übergeben worden. Wenn man die Brutalität betrachtet, die er später an den Tag legte, sind diese Aussagen bemerkenswert, aber wir haben ihn nicht ernst genommen. Hätten wir das getan, hätten wir wohl anders reagiert, als er vier Monate nach diesen Erklärungen Georgien angriff und Abchasien und Südossetien in Georgien de facto besetzte. Wir hätten auch anders reagiert, als er 2014 die Krim einnahm und Teile des Donbass besetzte. Nun hat Putin erneut seine Ambitionen offenbart. Vor ein paar Tagen verglich er sich in St. Petersburg mit Peter dem Grossen. Er versucht nicht einmal, seine wahre Absicht zu verschleiern, nämlich die Eroberung dessen, was er als altrussisches Gebiet betrachtet.
Weltwoche: Wie war die Chemie zwischen Ihnen und Putin? Hatten Sie das Gefühl, einem verlässlichen Partner gegenüberzusitzen?
Rasmussen: Putin hat sich verändert in der Zeitspanne von 2002, da ich als dänischer Ministerpräsident ihn zum ersten Mal getroffen hatte, bis 2014, als ich als Nato-Generalsekretär mit ihm verhandelte. Zu Beginn war Putin eigentlich sehr positiv gegenüber den Beziehungen zum Westen eingestellt. Wenn man seine öffentlichen Äusserungen als neuer Präsident liest, hatte er sogar die Idee eines Nato-Beitritts Russlands ins Spiel gebracht.
Weltwoche: Putin hat die Idee mehrmals geäussert. Er behauptet, Russland sei abgewiesen worden.
Rasmussen: Nein, nein, nein, das ist nicht wahr. George Robertson, der damalige Nato-Generalsekretär, mit dem ich vor ein paar Tagen gesprochen habe, hatte Putin zugehört und ihn über das Verfahren für die Bewerbung um eine Mitgliedschaft informiert, er hatte also nichts ausgeschlossen. Aber Putin und Russland hatten sich nie beworben, so dass wir darüber nie zu entscheiden hatten.
Weltwoche: Wann hat sich Putin geändert?
Rasmussen: Ich hatte ihn 2002 zum ersten Mal getroffen, und er hatte sich enthusiastisch für eine Stärkung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ausgesprochen. Dann änderte er seine Meinung. Das war nach der Rosenrevolution in Georgien im Jahr 2003 und der Orangen Revolution in der Ukraine im Jahr 2005. Er dachte, dass Amerika im Allgemeinen und die CIA im Besonderen genau die gleiche Art von farbiger Revolution in Moskau anstrebten, um sein Regime loszuwerden.
Weltwoche: Halten Sie das für eine völlig abstruse Vorstellung?
Rasmussen: Natürlich war es eine abstruse Vorstellung. Im Jahr 2007 machte er dann seine Überlegungen öffentlich. Das tat er auf der Münchner Sicherheitskonferenz, wo er die berühmte Rede hielt mit dem Satz, die «grösste geopolitische Katastrophe des letzten Jahrhunderts» sei der Zusammenbruch der Sowjetunion. Von diesem Zeitpunkt an traf er negative Entscheidungen in Bezug auf die Beziehungen Russlands mit dem Westen. Er griff Georgien 2008 und die Ukraine 2014 und 2022 an. Er hat sich stark verändert. Die Lektion, die ich aus meinen Begegnungen mit Putin gelernt habe, ist, dass Beschwichtigungen gegenüber Diktatoren nicht zu Frieden führen, sondern zu Krieg und Konflikten. Als ich als neuer Nato-Generalsekretär ihn im Dezember 2009 zum ersten Mal in Moskau traf, trat er sehr aggressiv auf. Er war damals Premierminister und Medwedew Präsident. Er sagte zu mir: «Jetzt, wo Sie die Führung eines Relikts des Kalten Krieges übernommen haben, sollten Sie die Nato abschaffen.» Das waren seine Begrüssungsworte.
Weltwoche: Was haben Sie ihm geantwortet?
Rasmussen: Ich habe ihm gesagt, dass ich der Anführer der erfolgreichsten Friedensbewegung der Geschichte geworden sei und dass es meine Absicht sei, diese Bewegung zu stärken.
Weltwoche: Der Kalte Krieg ist ja schon lange vorbei. Wie können Sie die Existenz dieses Fossils des Kalten Krieges rechtfertigen? Was ist die Daseinsberechtigung der Nato?
Rasmussen: (Lacht) Leider unterstreicht Putins Angriff auf die Ukraine meiner Meinung nach exemplarisch die Existenzberechtigung der Nato. Ein atomar bewaffneter Staat hat einen friedlichen Nachbarn angegriffen. Deshalb haben Finnland und Schweden beschlossen, einen jahrzehntelangen, im Falle Schwedens sogar 200 Jahre währenden bündnisfreien Status quasi über Nacht zu ändern, weil sie aus dem Angriff auf die Ukraine eine Lehre gezogen haben.
Weltwoche: Ein grosses Hindernis auf dem Weg zu einem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Economist bezeichnete Erdogans Regierung kürzlich als «tickende Zeitbombe» der Allianz. Macht die Türkei der Nato mehr Ärger, als sie wert ist?
Rasmussen: Was die Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens angeht, so denke ich, dass wir die Hindernisse aus dem Weg räumen werden. Was die Türkei anbelangt, so bin ich natürlich besorgt über die Entwicklung, die innenpolitische Entwicklung, sowie über den Kauf von russischem Militärgerät. Das ist ein Problem. Dennoch, mein Fazit ist, dass wir die Türkei brauchen. Sie hat nach den USA das zweitgrösste Militär innerhalb der Nato. Sie ist eine Brücke zwischen dem Westen und dem Osten. Wir brauchen sie, und ich denke, wir sollten einen kritischen Dialog mit der Türkei führen, anstatt sie aus der Nato zu werfen. Abgesehen von der Tatsache, dass wir keinen formellen Mechanismus für den Ausschluss von Mitgliedern haben. Das wäre ein langwieriger juristischer Prozess.
Weltwoche: Der frühere US-Aussenminister Henry A. Kissinger sagte am Gipfel in Davos, dass die Ukraine Territorium abtreten sollte, um Frieden mit Russland zu schliessen. Er sagte: Idealerweise sollte man eine Rückkehr zum Status quo ante anstreben, was bedeuten würde, dass die Ukraine einen Grossteil des Donbass und der Krim endgültig aufgeben müsste. Wäre das nicht der richtige Weg?
Rasmussen: Ich denke wirklich, dass Kissingers Erklärung eine gefährliche Aussage ist, denn das würde bedeuten, einen atomar bewaffneten Staat dafür zu belohnen, dass er einen friedlichen Nachbarn angegriffen hat. Es würde ein schlechtes Signal an Autokraten in der ganzen Welt senden. Ich bin überzeugt, dass sich das ukrainische Volk nicht ergeben wird. Solange russische Truppen auf ukrainischem Boden stehen, wird es Konflikte und Krieg geben. Ich denke, es ist allein Sache von Selenskyj und seiner Regierung, die Bedingungen festzulegen, unter denen sie ein mögliches Friedensabkommen oder einen Waffenstillstand mit Russland akzeptieren werden.
Weltwoche: Während der Friedensgespräche im März erklärten ukrainische Offizielle, ihr Land sei bereit, sich für dauerhaft neutral zu erklären – und damit auf die Aussicht auf einen Nato-Beitritt zu verzichten. Wäre es um des Friedens willen nicht klug, die Ukraine als neutralen Pufferstaat zu sichern?
Rasmussen: Was die mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine betrifft, so möchte ich Sie daran erinnern, dass wir bereits 2008 beschlossen haben, dass die Ukraine Mitglied der Nato wird. Jetzt ist es in der ukrainischen Verfassung verankert. Selenskyj hat angedeutet, dass die Ukraine unter bestimmten Bedingungen vielleicht auf den Antrag auf Nato-Mitgliedschaft verzichten und den Status eines neutralen Landes akzeptieren könnte. Aber, und das ist wichtig, er hat hinzugefügt: Dann brauchen wir alternative Sicherheitsgarantien als Ersatz für das, was wir durch die Nato-Mitgliedschaft hätten erreichen können.
Weltwoche: Welche könnten das sein?
Rasmussen: Das könnten viele Dinge sein. Tatsächlich hat Selenskyj mich vor einigen Tagen gebeten, eine Gruppe internationaler Experten zu leiten, die ihm und seiner Regierung Empfehlungen geben soll, welche Sicherheitsgarantien eine mögliche Nato-Mitgliedschaft ersetzen könnten.
Weltwoche: Nämlich?
Rasmussen: Natürlich könnte man erstens der Ukraine erlauben, selbst ein robustes Militär zu haben, denn das ist letztlich ihre einzige Sicherheitsgarantie. Zweitens könnte eine Reihe von Bürgschaftsstaaten der Ukraine international Sicherheitsgarantien geben. Dazu könnten die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Deutschland und die Türkei gehören. Wir haben jetzt damit begonnen, darüber nachzudenken. In Kürze werden wir veröffentlichen, wer die Mitglieder dieser Gruppe sein werden. Das ist wirklich eine wichtige Initiative.
Weltwoche: Könnte das die Stationierung von schweren Waffen der Alliierten auf ukrainischem Territorium beinhalten – etwas, was Russland nach eigenen Angaben am meisten fürchtet?
Rasmussen: Es gibt viele Aspekte, die hier zu berücksichtigen sind. Auch die zumindest vorübergehende Entsendung einer internationalen Friedenstruppe zur Überwachung eines Friedensabkommens und zur Verhinderung einer russischen Invasion ist eine Option. Es gibt viele Ideen, die auf dem Tisch liegen. Es geht darum, einen ähnlichen russischen Angriff auf die Ukraine in Zukunft zu verhindern.
Weltwoche: Wie kann dieser Krieg beendet werden? Glauben Sie, dass er bald beendet sein wird?
Rasmussen: Nein. Ich denke, wir haben es mit einem langwierigen Konflikt zu tun. Russland ist ein Experte für langwierige Konflikte. Die Russen sind schon seit Jahrzehnten in Transnistrien und Moldawien. In Georgien sind die Russen seit 2008. Auf der Krim und im Donbass sind sie seit 2014. Tatsächlich könnte Putins Interesse in einem langanhaltenden Konflikt liegen, in dem er die Ukraine so weit destabilisieren und schwächen kann, dass er den russischen Interessen dient. Ich denke, das ist jetzt das grösste Risiko. Deshalb müssen wir den Ukrainern alle Waffen liefern, die sie brauchen, um diesen Krieg zu gewinnen, und die Finanzierung von Putins Kriegsmaschine durch ein Öl- und Gasembargo stoppen.
Weltwoche: Halten Sie es langfristig für möglich, Russland als Nato-Mitglied aufzunehmen? Die Nato könnte eine globale Sicherheitsarchitektur werden, von Vancouver bis Wladiwostok, wenn man bedenkt, dass Russland sich über elf Zeitzonen erstreckt.
Rasmussen: Das ist eine theoretische Frage. Im Moment ist das natürlich nicht möglich. Ganz und gar nicht. Wir haben die Schwächen des russischen Militärs in diesem Krieg gesehen. Russland entspricht definitiv in keiner Weise den Nato-Standards.
Weltwoche: Eine Frage zur neutralen Schweiz. Als Reaktion auf Putins Angriff auf die Ukraine hat unsere Regierung begonnen, eine engere Zusammenarbeit mit der Nato zu prüfen. Wie könnte aus Ihrer Sicht eine solche Zusammenarbeit aussehen?
Rasmussen: Es könnte zum Beispiel eine Partnerschaft sein, wie wir sie seit vielen Jahren mit Finnland und Schweden haben. Finnland und Schweden sind die engsten Partner, die wir haben. Sie erfüllen alle Nato-Standards, militärisch, und alle demokratischen Standards.
Weltwoche: Welchen Wert könnte eine engere Zusammenarbeit mit der Schweiz für die Nato haben?
Rasmussen: In einer engen Partnerschaft, wie wir sie mit Finnland und Schweden hatten, könnte es gemeinsame Übungen geben, militärische Zusammenarbeit, um sicherzustellen, dass das Schweizer Militär die Nato-Standards erfüllt, dass seine militärische Ausrüstung kompatibel ist und es mit dem Nato-Militär zusammenarbeiten kann. Das wäre ein erster Schritt.
Weltwoche: Könnten Sie sich eine Mitgliedschaft der Schweiz in der Nato vorstellen?
Rasmussen: Ich weiss es nicht, aber ich würde sagen, wenn die Schweiz der Nato beiträte, könnte sie aufgrund ihrer geografischen Lage und ihres starken Willens, die Schweiz zu verteidigen, wirklich einen Beitrag zur Gesamtverteidigung Europas leisten.