Islamischer Antisemitismus: Wie die deutsche Statistik Tatsachen verschleiert
Im Zweifelsfall sind die Täter rechts: Wie die deutsche Polizeistatistik den islamischen Antisemitismus verschleiert
Gewalt gegen Juden wird in deutschen Diskussionen oft als «rechtes» Problem dargestellt. Doch die Zahlen, die das untermauern sollen, sind fragwürdig.
NZZ, Kai Funkschmidt, 06.02.2024
Im Dezember 2023 sprach der Sicherheitsrat Israels eine Reisewarnung für Deutschland aus. Man solle äussere Hinweise auf eine jüdische Identität oder israelische Staatsangehörigkeit vermeiden. Die Warnung war nicht übertrieben. In Deutschland nehmen antisemitische Straftaten seit längerem um jährlich 15 bis 30 Prozent zu. 2021 wurden über 3000 Fälle gemeldet. Die Zahl ging 2022 leicht zurück, aber die Gewalttaten erreichten mit 88 Fällen einen neuen Rekord. Allein im letzten Quartal 2023 erfasste das Bundeskriminalamt vorläufig über 1000 Taten. Dabei werden laut einer EU-Umfrage in Deutschland 80 Prozent der antisemitischen Taten gar nicht gemeldet.
In Debatten über Antisemitismus wird seit Jahren behauptet, die allermeisten Vorfälle gingen auf das Konto von Rechtsextremisten. Solche Behauptungen stützen sich meist auf die seit 2001 vom Bundeskriminalamt veröffentlichte Statistik zur «Politisch motivierten Kriminalität (PMK)». Hier wurden jeweils 94 bis 95 Prozent der Vorfälle rechtsextremen Tätern zugeordnet. 2022 waren es 83 Prozent. Aus diesen Angaben ergibt sich scheinbar ein unschönes, aber vertrautes Bild: Juden hassende Neonazis sind Wiedergänger dessen, was jeder aus dem Geschichtsunterricht kennt.
Islamistische Täter gab es lange Zeit gar nicht – in der Statistik
Doch das Bild, das die amtliche Statistik zeichnet, passt nicht zu dem, was seit dem 7. Oktober auf den Strassen in Deutschland und anderen Ländern ein unübersehbares Massenphänomen ist: Antisemitismus unter Muslimen, Linken und arabisch- und türkischstämmigen Menschen. Die meisten tödlichen Anschläge auf Juden in Europa gingen in den letzten Jahren von Islamisten aus, etwa in Paris, Toulouse, Brüssel oder Kopenhagen.
Eine EU-Umfrage in acht Ländern ergab 2013, dass Juden fast überall Antisemitismus mit Abstand am häufigsten von Muslimen erlebten (Ausnahmen waren Ungarn und Italien). Vorsitzende von jüdischen Verbänden in Frankreich, Grossbritannien und Deutschland haben in den letzten Jahren wiederholt auf dieses Problem hingewiesen. Länder wie Schweden und Frankreich zeigen, wie gross das Problem werden kann. Tausende Juden haben dort muslimisch migrantische Stadtteile verlassen und sind innerhalb des Landes umgezogen. Oder sie sind ganz ausgewandert.
Mehrere Juden, unter ihnen eine Holocaust-Überlebende, sind in Frankreich gezielt von Islamisten und Kriminellen ermordet worden. Der 2004 publizierte französische Rapport Obin berichtete, dass schon 1998 jüdische Schüler unter muslimischem Druck von staatlichen Schulen abgehen mussten. In einer Befragung des Instituts Ifop aus dem Jahr 2019 nannten 45 Prozent den Islamismus als Haupttreiber des Judenhasses, weit vor dem Rechtsextremismus (26 Prozent) und dem Linksextremismus (23 Prozent).
Student spitalreif geprügelt
Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Hinweise für die islamistische Bedrohung. Die Anschläge auf Synagogen in Düsseldorf (2000) und Wuppertal (2014) waren frühe Menetekel. Heute sind es vor allem türkisch- und arabischstämmige junge Männer, die Juden mitten in der Stadt angreifen. Der Mordanschlag von Halle 2019 oder der Angriff auf ein koscheres Restaurant in Chemnitz 2018 waren insofern untypisch.
Dennoch gab es für diesen Täterkreis bis 2017 nicht einmal eine eigene Erfassungskategorie in der bundesdeutschen Statistik, so dass es dort offiziell gar keine islamistischen Täter gab. Die meisten gefassten Täter entsprechen jedoch dem Muster «jung, männlich, muslimisch». So sind in den letzten Jahren sieben Rabbiner angegriffen worden – die Täter wurden bis auf eine Ausnahme als muslimische Migranten beschrieben. 2018 schlugen zehn Syrer mitten in Berlin einen Juden zusammen. Auf propalästinensischen Demos wird «Hamas, Hamas, Juden ins Gas!» und «dreckige Juden» gerufen. Am Freitag wurde ein jüdischer Student in einer Berliner Bar krankenhausreif geprügelt – gemäss «Jüdischer Allgemeinen» von einem muslimischen Kommilitonen.
Seit 2017 enthält die PMK-Statistik zwar die Kategorie «Religiöse Ideologie», sie wird aber kaum angewendet. Selbst zusammengenommen mit der Kategorie «Ausländische Ideologie» soll dies jährlich nur ein bis sechs Prozent der Taten ausmachen. Der Anteil linker Täter liegt offiziell sogar unter einem Prozent. Die Opfer berichten freilich anderes.
Anschläge auf Synagogen
Eine Studie der Universität Bielefeld stellte 2017 fest, dass in Deutschland nach Einschätzung der Betroffenen 81 Prozent der Taten von Muslimen ausgingen – die weniger als 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Auf das Konto von Linken gingen demnach 25 Prozent, Rechte tauchen mit 19 Prozent erst an dritter Stelle auf. Die Rangfolge ist also genau umgekehrt wie in der PMK-Statistik.
Besonders ausgeprägt ist dieser Befund bei Gewalterfahrungen. Allein in Berlin wechseln seit Jahren jährlich sechs bis acht jüdische Knaben und Mädchen unter dem Druck muslimischer Mitschüler auf ein jüdisches Gymnasium. Selbst jüdische Lehrer sind davor nicht gefeit, wie der «Spiegel» 2015 berichtete. Eine repräsentative Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung ermittelte im vergangenen Jahr neuere Zahlen zu Einstellungen gegenüber Juden. Das Resultat: Muslime dachten viel häufiger als der Durchschnitt, Juden seien hinterhältig oder die eigentlichen politischen Herrscher. Gewalt gegen Juden fanden sieben Prozent der befragten Muslime verständlich – dreieinhalbmal so viele wie im Durchschnitt.
Eine Opferbefragung ist eine andere Datenbasis als eine polizeiliche Statistik. Doch die Abweichung ist so eklatant, dass klar ist: Die offizielle Statistik bildet die Wirklichkeit nicht adäquat ab, sie scheint sie sogar auf den Kopf zu stellen. Eine wesentliche Verzerrung entsteht durch die Tatsache, dass die meisten Taten gar nicht aufgeklärt, aber dennoch einem Täterkreis zugeordnet werden. Konkret werden aufgrund politischer Vorgaben fast alle Taten, deren Täter unbekannt bleiben, statistisch als «rechts» eingeordnet. So wurden 2014 in Berlin nur 30 Prozent von 192 Straftaten aufgeklärt, aber 98 Prozent der Tätergruppe «rechts» zugeordnet.
Wer ein Hakenkreuz schmiert, ist «rechts»
Sobald etwa ein Hakenkreuz oder ein Hitlergruss im Spiel sind, gilt die Tat als «PMK-rechts», egal, wer sie beging. Das gilt auch, wenn arabische Hizbullah-Anhänger «Sieg Heil» oder «Juden ins Gas» rufen – oder den Hitlergruss zeigen. Jede Bezugnahme auf den Holocaust oder NS-Symbole erscheint statistisch als «rechtsextrem», obwohl solche Symbole häufig auch von muslimischen und linksextremen Tätern verwendet werden, wenn sie Israel als den neuen Nazi-Staat brandmarken wollen.
Nicht nur jüdische Vertreter bemängeln die irreführende Statistik seit langem. Das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus forderte 2018, die Erfahrungen der Opfer antisemitischer Taten ernster zu nehmen und in die behördliche Lagebeurteilung stärker einzubeziehen.
2017 hatte sogar der Antisemitismus-Expertenkreis des Bundestags kritisiert, dass die PMK-Statistik «antisemitische Straftaten grundsätzlich immer dann dem Phänomenbereich PMK-rechts zuordnet, wenn keine weiteren Spezifika erkennbar sind. Damit entsteht möglicherweise ein nach rechts verzerrtes Bild über den Täterkreis.» Der Expertenkreis kommentiert zusammenfassend: «Man darf also die Zahlen der PMK-Statistik nicht als Abbild der Realität missverstehen.» Als Einschätzung einer vielzitierten offiziellen Kriminalstatistik ist das einigermassen verblüffend. Was soll sie denn sein, wenn nicht Abbild der Realität?
Jonas Lüscher und «die Zahlen»
Bis heute wird die verzerrte Statistik als Argument gegen angeblich «subjektive Eindrücke» benutzt. Die PMK-Statistik ist ein wichtiges politisches Vorprodukt, aus dem Politiker Forderungen «gegen rechts» ableiten, etwa für eine dauerhafte staatliche Förderung der Antifa, wie sie Renate Künast 2020 im Bundestag verlangte.
Während Zigtausende arabisch- und türkischstämmige Demonstranten auf Deutschlands Strassen «Scheiss-Juden» skandierten, schaffte es Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) in Interviews und Reden zum 9. November oder im ehemaligen KZ Sachsenhausen, Antisemitismus als primär «rechtes» Problem darzustellen – und sonst vage «jede Form von Antisemitismus» zu verurteilen.
Viele Medien unterstützten diese Realitätsflucht, obwohl die statistische Verzerrung und ihre Ursache leicht zu recherchieren wäre. Seit Jahren erscheinen in jedem Frühjahr Schlagzeilen, die fast schon beschwörend wirken. «Vornehmlich rechtsextreme Täter», heisst es jeweils, «Über 95 Prozent antisemitischer Taten gehen auf das Konto von Rechtsextremen». Noch im vergangenen Jahr titelte «Zeit online» in einem Artikel über Antisemitismus vom 9. November: «Zahl rechter Straftaten laut Regierung fast verdoppelt», ohne im Artikel auch nur mit einem Wort auf den Antisemitismus unter Muslimen einzugehen.
Der deutsch-schweizerische Schriftsteller Jonas Lüscher kritisierte kürzlich in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen und der «Süddeutschen», dass Teile der Linken schon immer «verstörende Sympathien gepflegt» hätten. Der Antisemitismus sei jedoch kein linkes oder muslimisches, sondern «massgeblich ein rechtes Problem». Das zeigten «die Zahlen» sehr deutlich. Auf welche «Zahlen» er sich beruft, wurde Lüscher nicht gefragt – aber da europäische Opferbefragungen seine Behauptung kaum stützen, liegt die Vermutung nahe, dass er die deutsche PMK meint.
Bezeichnend für diese angeblich zahlenbasierte Selbstbeschwörung ist, dass selbst Juden die Kompetenz abgesprochen wird, Bedrohungen zu erkennen. Als Islamisten im Januar 2015 in Paris gezielt Juden ermordeten, warnte Josef Schuster vom deutschen Zentralrat der Juden davor, in muslimisch geprägten Stadtteilen eine Kippa zu tragen. Das Problem, so belehrte ihn die damalige Berliner Integrationssenatorin Dilek Kolat sogleich, lasse sich «eindeutig nicht auf muslimische Berliner fokussieren» – schliesslich kämen «90 Prozent der antisemitischen Vorfälle aus der rechten Szene».
Mut zum «Nie wieder!»?
Mit ähnlicher Arroganz reagierten «Expertinnen» 2018 in einer Podiumsdiskussion auf Aussagen des Restaurantbesitzers Yorai Feinberg. Der jüdische Berliner war durch ein Video bekannt geworden, in dem ihn ein (augenscheinlich nichtmuslimischer deutscher) Nachbar minutenlang als Juden beschimpft und bedroht. Als in der Diskussion der muslimische Antisemitismus zur Sprache kommt, fährt die Moderatorin sofort dazwischen und verweist auf die PMK-Statistik und die «95 Prozent rechtsextremen Täter». Darauf erwidert Feinberg: «Ich lebe seit Jahren in Deutschland und habe täglich mit antisemitischen Beschimpfungen zu tun. Ich bin sozusagen eine nichtwissenschaftliche Ein-Mann-Studie. Nach meiner Erfahrung sind mindestens 80 Prozent der für mich aufgrund von Aussehen, Akzent oder Aussageinhalt identifizierbaren Täter wahrscheinlich muslimischer Herkunft.»
Für den Rest der Sendung wird Feinberg ignoriert, mit Verweis auf die «wissenschaftliche» PMK-Statistik.
Seit 1945 wurden in Deutschland auf Tausenden Gedenkveranstaltungen und in Millionen Schulstunden jene wenigen Mutigen als Vorbilder gefeiert, die im NS-Regime dem antisemitischen Wahn widerstanden. «Nie wieder, nicht mit uns!», versprechen sich die Schulkinder und sagen Politiker routiniert an Jahrestagen. In Wirklichkeit aber zeigt die seit Jahren trotz aller Kritik kaum veränderte, offensichtlich auch zur Problemverschleierung missbrauchte polizeiliche Statistik, dass viele Verantwortliche bis heute nicht einmal den Mut aufbringen, ein unbequemes, aber realistisches Bild der Lage zu zeichnen.
Kai Funkschmidt ist Wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Kirche in Deutschland. Er lebt in Frankfurt.